REFLEXIONEN NACH DER KONFERENZ
Werner Schütze
Gesundheitszentren – Revolution oder Evolution im System.
Wrocław, 30 September 2022.
Unter diesem nahezu „reißerisch“ gewählten Titel haben die Fundacja Polski Instytut Otwartego Dialogu, Dolnośląska Szkoła Wyższa und das neu gegründete Gesundheitszentrum des psychiatrischen Universitätskrankenhauses eingeladen, sich zum einen mit einer überraschenden Entwicklung in der Stadt und der Region Wroclaw zu beschäftigen, darüber hinaus dieses aber auch einzubetten in die bisherigen Reformbestrebungen zur Weiterentwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems in Polen. Es handelt sich um die 2. größere Veranstaltung zum Reformprozess, dieses Mal organisiert von einer anderen Interessengruppe innerhalb der Bewegung, mit dem Ziel, weitere Schwerpunkte zu setzen und andere Zielsetzungen zu betonen. Zu hoffen ist, dass in Zukunft auch wieder ein gemeinsames Einstehen für notwendige Veränderungen möglich wird. Aber: Fest steht auch, das sich im Moment in Polen auf dem Gebiet der Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgungsstrukturen mehr bewegt als in jedem anderen europäischen oder europanahen Gebiet. Insofern wird sich ein regelmäßiger Austausch über die stattfindende Entwicklung lohnen.
Auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, dass polnische Politik und Haltung viel Wert auf nationale oder eigene Lösungen legen, hat man hier die europäische Perspektive hinzugezogen, um sich Erfahrungen dazu, was sich in anderen Ländern bewährt hat, und was man aus solchen Entwicklungen lernen könnte, zu Nutze zu machen.
Aber der Reihe nach:
Es war eine gute Idee, alle Referierenden schon am Vortage der Veranstaltung einzuladen, um ihnen eine praktische Anschauung über die Situation vor Ort zu ermöglichen. Dabei war die Idee auch, dass alle sich untereinander kennenlernen konnten, und so sehr früh im Kreis der Vortragenden ein Gespräch und eine Atmosphäre entstehen konnte, die anregte und die Veranstaltung auch zu einem gemeinsamen Anliegen machte.
Was die Anschauungen anging, schwankten wir zwischen Erschrecken bei dem Besuch der Station in der Klinik über die dort nach wie vor bestehenden Einschränkungen und dem Aufatmen in dem neu gegründeten Gesundheitszentrum im zu versorgenden Stadtteil, ein moderner Neubau mit Balkon und kleinem Garten und niederschwelligen Zugängen. In Gesprächen mit den Mitarbeitern wurde klar, dass man sich auf den Weg gemacht hat, einiges ausprobiert und Überlegungen anstellt, wie es alles noch weiter zu entwickeln wäre. Derartige Aufbruchstimmung ist ansteckend! „Denn jedem Anfang ist ein Zauber inne….“ Am nachfolgenden gesellschaftlichen Abend auf dem „Rynek“ der Stadt konnte ich alte Bekanntschaften auffrischen und neue Kontakte herstellen, auch das eine Bereicherung.
1. ineffizient ist,
2. Menschenrechtsverletzungen erzwingt,
3. Und die meisten finanziellen Ressourcen verschlingt,
und von daher jede Reform nur in den Ausbau und die Entwicklung ambulanter Versorgungsstrukturen investieren soll. Die dazugehörige Theorie wird in 4 Begriffen gefasst: verbinden, funktionieren, sich einstellen und entwickeln (connect- function- cope- thrive). Diese Form der Ambulantisierung könnte dazu beitragen, das lebendige Gemeinschaften in den Kommunen wieder belebt werden.
Roberto Mezzina als Vertreter der italienischen Reform aus Triest, erzählte aus seiner eigenen Geschichte aus den Jahren, als das Reformgesetz 180 beschlossen worden war. Ich nahm für mich mit, dass es in besonderen Situationen immer besonders couragierter enschen bedarf, die einer Idee zum Erfolg verhelfen. Er machte keinen Hehl daraus, dass auch in der damaligen Situation verschiedene Meinungen und Lösungswege eingeschlagen wurden und Fehler gemacht wurden. Das scheint auch jetzt noch unvermeidlich und bekräftigt nur, wie wichtig der Austausch untereinander ist, um so wenig Fehler wie möglich zu machen und schnell aus ihnen zu lernen. Das allein ist eine hehre Aufgabe. Er betonte, wie wichtig für ihn die Einbindung der neuen Versorgungsstruktur in die umliegende Gemeinde ist und wiederholt immer wieder die Gefahr, dass jede neue Struktur genauso im Laufe der Zeit zur Institution werden kann, wenn der lebendige Austausch mit ALLEN Beteiligten nicht fester Bestandteil der Arbeitsweise wird. Dazu gehöre auch, sich konsequent an den Bedürfnissen der Patienten zu orientieren und nicht an den Bedürfnissen der Strukturen (Institutionen). Auch er mahnte an, dass ohne eine Veränderung der Einstellungen und bisherigen Grundannahmen durch Schulungen und Vorleben, diese Gefahr fast nicht zu bannen ist. Getragen wurde das durch ein Bekenntnis zum Freiheitsgedanken und Respekt vor dem Anderen.
In einem anderen Rahmen sprach er offen darüber, dass durch neue Akteure in Triest längst nicht mehr alles so glänzt wie zuvor und dass durch neuerliche politische Einflussnahme viele der Errungenschaften der letzten Jahre ernsthaft bedroht sind. Das schmälert aus meiner Sicht nicht das Verdienst dieser mutigen Pioniere, erinnert mich aber daran, dass nach einem Wechsel derjenigen, die das System aufgebaut und gelebt haben, häufig kein Stein auf dem anderen bleibt.
Und dann Jan Pfeiffer aus der Tschechische Republik, selbst Psychiater, Beauftragter für Deinstitutionalisierung in der EU und Organisator der Deinstitutionalisierung in Tschechien. Er ist wohl der radikalste Vertreter derer, die für die Abschaffung psychiatrischer Krankenhäuser plädieren. Er ist auch Mitinitiator des polnischen Power-Projektes, mit gutem Überblick, was sich in diesem Feld in Europa tut. Aus der Entwicklung in seinem Land berichtete er, dass auch dort sich das medizinische Feld neben dem sozialen entwickelt hat, dieses sich aber jetzt nicht als nachgeordnet erlebt, sondern sich als Partner darstellt, und so eine eigene Kultur der Zusammenarbeit entwickelt wird. Auch er fühlt sich der Idee verpflichtet, sich der Notwendigkeit der Änderung des Denkens in Bezug auf Haltung und Grundannahmen zu stellen (change of thinking) damit nicht die institutionell vertretene Kultur in die Wohnungen der Klienten getragen wird. Er regte an, nicht von Gesundheits“zentren“ zu sprechen, sondern vom Gesundheitsteam (Mental Health Team), um damit auch sprachlich den Erfordernissen nach Flexibilität Rechnung zu tragen. Sein Slogan: „Nicht der Arzt sollte das letzte Wort haben, sondern die Menschenrechte!“ Und wie nun das alles in den polnischen Kontext einbringen? Diesen Versuch unternahm Anna Depukat, die jetzige Direktorin des Reformprogrammes, die sich nicht nur mit den so oder so schwierigen Gegebenheiten eines solchen Reformprozesses beschäftigen, sondern auch noch eisigen Gegenwind der abgesetzten Leitung ertragen musste. Ohne auf diese Hintergründe einzugehen, machte sie deutlich, dass es keinen einheitlichen, einzigen, oder gar „richtigen“ Weg geben könne, sondern dass es nur unter der Berücksichtigung lokaler Lösungen Anpassungen an Vorgaben möglich wären.
Und diese Lösungen sind dann auch von dem Direktorat mit den lokalen Akteuren auszuhandeln. Polen ist ein sehr großes Land, aufgeteilt in 16 Regionen (Wojewodschaft) und Bezirke, die alle sehr unterschiedlich (politisch, sozial, Stadt, Land) sein können und wie viele überzeugte Aktive kann es geben, die diesen Prozess nicht nur mittragen sondern auch mitleben? Und welche Kraftanstrengung wird es sein, ein Umdenken von krankenhauszentrierter Arbeit auf das Behandeln in der Gemeinde zu ermöglichen? Sie erwähnte, dass es, was die Gesundheitszentren angeht, zwei Modelle geben wird, eins in dem die Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus angestrebt wird und eins, das lediglich Krisenbetten zur Verfügung hat. Sie erwähnte auch, dass es noch keine Integration kinder- und jugendpsychiatrischer Arbeit gibt (das wäre auch wegweisend!!) aber dort sei bereits eine Reform im Gange. Ein großes Problem sieht sie auch in der Herausforderung, Ärzt*innen und Psycholog*innen, die sichstatt sich ins Private zurückzuziehen- in die Gemein- de (-schaftliche Versorgung) einbringen sollten. Im nächsten Jahr wird das Pilotprogramm enden und bis 2027 in das Gesundheitsreformprogramm aufgenommen, dafür sind noch Gesetze und Verordnungen zu schaffen. Imponierend bleibt ihr Wille zu integrieren und zu vermitteln, das scheint ein Glücksfall für die Reform zu sein.
Prof Kiejna, Andrzej ist der ehemalige Lehrstuhlinhaber einer früher als ausgesprochen konservativ beschriebenen psychiatrischen Fakultät, der nun als Mitglied einer privaten Universität die nötige Flexibilität zeigt, sich mit dem Veränderungsprozess zu beschäftigen. Er hat sich der Epidemiologie im Rahmen von psychischer Gesundheit gewidmet und trug seine Ergebnisse vor, was die Umstellung aufgrund des Pilot-Programmes in den letzten Jahren an Verbesserungen oder Veränderungen gebracht hat. Dabei ist es zur Aufnahme von mehr Menschen in das Programm und weniger Aufnahmen in die Klinik gekommen. Mir kommt es vor wie eine „nützliche“ Studie die in der Lage ist, die Ausrichtung des Programms zu unterstützen. Herr Kiejna ist ein vorsichtiger Mann, und interpretiert entsprechend. Eine solche Studie kann ein wichtiger wissenschaftlicher Brückenschlag zwischen den Zauderern und den Befürwortern werden.
Natürlich wird auch deutlich, dass es immer etwas zu verbessern gibt,, um einer neuerlichen, nur anderen „Institutionalisierung“ oder Starre zu entkommen. Für sie sei das Kennenlernen von „Veränderungsmanagement“ von Bedeutung gewesen, was einen Ausdruck darin gefunden habe, dass neue Mitarbeitende von Anbeginn in die neuen „Spielregeln“ eingeführt werden, und die persönlichen Fähigkeiten der Einzelnen in der Arbeit besondere Berücksichtigung finden.
Ewa Makiela und Ewa Piantkowska aus Nowy Targ berichteten ebenfalls von ihren Erfahrungen aus der Zeit des Power- Projekts. Für sie sei der Open Dialogue- Ansatz die Grundlage der Arbeit, und sie betonten wie sehr sie inzwischen „daran interessiert sind, was ihre Gesprächspartner sagen“.
Michał Stachów, Geschäftsführer der neu entstehenden Organisation „niederschlesisches Zentrum für seelische Gesundheit“ (Dolnośląskie Centrum Zdrowia Psychicznego) und die Leiterin des neu entstandenen Gesundheitszentrums in einem Stadtteil (Psie Pole) von Wroclaw, berichteten zu den organisatorischen Herausforderungen, die für sie nur als Entwicklung mit Augenmass geschehen kann, aber auch mit genug Mut, das Ungewohnte zu wagen. Dabei habe man voneinander gelernt. In diesem Fall hat ein Besuch in Wieliczka Hilfestellung geboten. Und das war noch nicht alles. Natürlich sollten auch kooperierende Organisationen zu Wort kommen. Der Wert ihrer Beiträge lag für mich insbesondere darin, lokale Besonderheiten und Zusammenhänge besser zu verstehen.
Anna Krausz- Mienkus, die nicht nur Apulien Liebhaberin ist, leitet einen freien Träger, dem sie in den zurückliegenden 20 Jahren zu einer solchen Blüte verholfen hat, dass sich die neu entstehenden Organisationen sehr gut auf das stützen können, was da ist und die Zusammenarbeit erheblich erleichtert. Die Kanzlerin der Universität (Dolnośląska Szkoła Wyższa) beschreibt welche Ziele ihre Einrichtung verfolgt, dass sie daran interessiert sind, an einem Prozess teilzuhaben, in den sie ihre Studenten in Psychologie und Sozialpädagogik einbringen können und selber davon profitieren, dass sie Lehr- und Lernziele so ausgestalten, dass die Studenten gut auf das vorbereitet sind, was auf sie zukommt. Für sie bündelte sich das im Slogan der Universität: „Ein Platz für Dich“.
Ein weitere sehr berührender Beitrag wurde uns von einer Gruppe von Peers geboten, die unter Moderation von Krzysztof Henczak über das sprachen, was ihnen in dem bisherigen Prozess wichtig war. Sie sprachen Sätze aus wie:
Nichts über uns ohne uns
Mein Leben war und ist mein Lehrer
Der Kampf mit sich selbst ist schwer
Die Einsamkeit… zu überwinden
Das Stigma überwinden- mit Hilfe von OD.
Das sind Sätze, die Nachhallen. Kritische Bemerkungen über andere Berufsgruppen sollten aber nicht zu Rivalitäten führen, die die notwendige Zusammenarbeit erschweren. Und nun zur eigentlichen Hauptakteurin dieses Tages. Mehrfach fiel der Satz „Ohne Regina wären wir heute nicht hier“. Ich habe an vielen Stellen meine ungebrochene Solidarität mit ihr bekundet, dies in Anerkennung ihrer Energie und ihres Könnens, die sie in die Waagschale geworfen hat, um ihre Idee einer „besseren“ Psychiatrie auf den Weg zu bringen. Sie hat von den Granden des Faches Einiges „wegstecken“ müssen und das mit Bravour getan, trotz mancher massiver Kränkung und Abwertung. Ihre Unerschrockenheit, das Durchhaltevermögen und ja.. ihr Gottvertrauen haben Dinge in Bewegung gebracht und möglich gemacht, sodass der Slogan mit dem Möglichmachen des Unmöglichen auf sie passt, wie auf kaum jemand Anderen. Und sie erntet die Früchte ihrer Unermüdlichkeit, denn bei genauer Betrachtung gibt es kaum eine Bewegung nach „vorne“, die sie nicht unterstützt hat. Zahlreiche von ihr organisierten Symposien oder Tagungen zieren ihren Werdegang, der auf besondere Art außergewöhnlich ist. Sie erzählt freimütig von den Dingen, die sie belastet haben und dazu beitrugen, den beschriebenen Weg einzuschlagen. Sie spricht von ihrer Vision einer Psychiatrie der offenen Zugewandtheit und erntet den verdienten Beifall.
Den Abschluss bildete Olga Khan, Vertreterin der WHO Polen aus Warschau, die uns an die Bedeutung der rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit seelischer Gesundheit erinnert, gleichgültig ob wir es Menschenrechte, qualifizierte Rechte , CRPD oder auch anders nennen. Damit schließt sich ein Kreis, denn R. Mezzina hat uns zu Beginn der Tagung daran erinnert, dass für seinen Lehrer, Franco Basaglia, die Menschenrechte im Sinne von Bürgerrechten ein Antrieb waren, den Patient*innen ihre Würde zurück zu geben. Das muss auch für uns ein Anliegen bleiben.
Soweit die Fülle des Dargebotenen. Was hat gefehlt? Prof. Kiejna brachte es in der anschließenden Reflektion auf den Punkt. Die bisher tonangebenden und skeptischen bis ablehnenden Psychiater*innen (vielleicht auch Psycholog*innen?). Ihre Stimme haben wir nicht gehört. Es wird eine Aufgabe bleiben, sie einzuladen zu einem Gespräch über neue Entwicklungen, nicht mit der Intention, sie zu überzeugen, aber sie gut zu informieren, damit sie sich eine eigene Meinung neu bilden können. Inklusion betrifft uns alle. Andauernd.