REFLEXIONEN NACH DER KONFERENZ
Werner Schütze
Subjektive - wie immer - Anmerkungen zu einer sehr gelungenen Tagung.
Ich sage es gleich vorweg: wenn es etwas zu beklagen gab, dann nur das Wetter und die vielen belegten Brötchen. Vor beidem musste man sich schützen, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
Der Fußweg vom Bahnhof zum Hotel war weit, und die Reisetasche wurde schwer, als wir endlich das Hotel erreichten, in dem wir untergebracht waren. Das Ankommen bei unseren Tagungen ist immer sehr speziell: schon bei den Vorstandssitzungen, die stets vor dem eigentlichen Beginn der Tagung stattfinden, kennt die Wiedersehensfreude in manchen Fällen keine Grenzen…. es gibt ja gleich soviel zu erzählen! Und die Spannung, die entsteht, sich über die Gesundheit der Einzelnen oder darüber, wie viele Anmeldungen es wohl gegeben hat, und ob die Sorgen über zu wenig Teilnehmer berechtigt waren? Eine Zahl von 150 Interessierten machte die Runde…. Na, mal sehen.
Für die Vorstandssitzung fanden wir uns dann doch in eher kleinem Kreis zusammen, denn Zahnschmerzen, ein gebrochener Arm, ein kleiner Sohn und eine schwere Infektion machten es möglich, den polnischen Vorstand an einer Hand abzuzählen. Ich konnte nicht umhin, an die letzte Sitzung in Warschau zu denken, in der ein „Riss“ auf der polnischen Seite sichtbar geworden war, ohne dass wir bisher einen Weg gefunden hätten, es so zu thematisieren, dass wir ein besseres Bild davon bekämen, wer sich mit welcher Ausrichtung bei der gegenwärtigen Psychiatrieplanung identifizieren wollte.
So nahmen wir Platz – neben den vielen belegten Broten - man muss uns für sehr ausgehungert gehalten haben - und fingen an, das Tagungsprogramm noch einmal durchzugehen. Wir stellten fest, dass nicht alle Verpflichtungen so wahrgenommen worden waren, dass die Referenten vollständig hätten zusagen können. Das forderte uns heraus, zu improvisieren, umzustellen und Ersatz zu finden. Dazu später mehr.
Schon bei der ersten Annäherung an den Tagungsort fiel das imposante Gebäude auf, in dem wir uns trafen; eine andere Art von „Kulturpalast“, der früher als Peter- Friedrich- Ludwig Hospital gedient hatte, und nun eine neue, gelungene Berufung gefunden hat.
Der Beginn der Tagung mit einführenden Worten des Veranstalters und Grußworten von Politikern bereitete in seiner Art den Boden für weitere Diskussionen. Die Bezogenheit aller auf die Thematik und eigene Geschichtlichkeit kreierten die Atmosphäre, um sich weiter einzulassen.
Zuerst auf den eindringlich und kämpferisch vorgetragenen Bericht der ukrainischen Delegation („Ich kann nicht schweigen“) über Kriegsgräuel, Hilfsaktionen und den ungebrochen Willen, diesen Krieg gewinnen zu wollen. 7 Männer aus der Region Lviv, zu der auch aus den Reihen der DPGSG seit vielen Jahren Beziehungen bestehen, die jetzt über das Organisieren von Hilfen intensiviert wurden. Es war nicht einfach, nach den erschütternden Berichten, die vielerlei widersprüchliche Gefühle uns aufgewühlt hatten, all dieses erst einmal wirken zu lassen und dann zu einem weiteren kritischen Thema überzugehen.
Nämlich auf den Eröffnungsvortrag von Matthias Bormuth, der in ansprechend freisprechender Weise über seine Gedanken zu „Freiheit als politisch- psychiatrische Utopie“ sprach und uns über die lebensgeschichtlichen Verschränkungen von Karl Jaspers, Jeanne Hersch und Czeslaw Milosz mit den komplexen Überlegungen und Entwicklungen von allen Dreien zu Grenzen und Möglichkeiten äußerer und innerer Freiheitsgrade vertraut machte, die für mich ihre dichteste Form in der Aussage fand, dass wir nicht wirklich wissen können, und umso weniger, wenn es um das Wohl anderer geht. Ein sehr anregender und vieles umspannender Vortrag, der nachwirkt…. auch wenn wir im Anschluss zum gemütlichen Teil des ersten Tages übergingen.
Natürlich sind wir alle vorrangig an den Tagungsthemen interessiert, aber auch ich bin nicht ganz frei von dem Wunsch, die Pausen und Freiräume der Tagungen dafür zu nutzen, alte Bekannte wieder zu begrüßen und mit Freunden und Weggefährten die Beziehungen aufzufrischen und natürlich: Witze zu machen und Neuigkeiten auszutauschen. Manches Mal überwiegt sogar die Vorfreude auf diese Begegnungen. Natürlich bieten sich dort Möglichkeiten, Gedanken auszusprechen oder Gefühle zu äußern, die wir im Saal besser für uns behalten. Abgesehen davon, dass es auch in unserer Gesellschaft guter Brauch ist außerhalb des Protokolls etwas vorzubesprechen, um zu ermessen, inwieweit die Zeit reif ist, es dann öffentlich zu machen.
Und dann natürlich die Nachbesprechungen in kleinem Kreis um den Kneipentisch, die Zungen geringfügig gelockert, was aber schon zu manchem erstaunlichen Ergebnis geführt hat.
Dann aber der nächste Morgen: Schon das gemeinsame Frühstück bietet wieder Gelegenheit anzuknüpfen oder sich über sehr Privates zu verständigen.
Auf dem gemeinsamen Spaziergang zum Tagungsort – übrigens morgens in strahlendem Sonnenschein- eröffnen sich weitere Perspektiven.
Auf dem gemeinsamen Spaziergang zum Tagungsort – übrigens morgens in strahlendem Sonnenschein- eröffnen sich weitere Perspektiven.
Das offizielle Programm eröffnete Ralf mit seinen Überlegungen zum „Wohlwollenden Zwang“ und einem Versuch, das zu „operationalisieren“, wie man heute so sagt. Ich habe es verstanden als den pragmatischen Versuch etwas handhabbarer zu machen, was erst einmal durch die Verknüpfung von widersprüchlichen Worten fast zynisch klingen oder aber als ethisch begründete Möglichkeit zum Umgang mit gefährdendem Verhalten führen kann. Mich hat das dem Dilemma wieder nähergebracht, wie weit psychiatrische Sorge reichen darf oder muss, welche Grenzen zu beachten sind, und welche ethische Verantwortung im Sinne der „Haltung“ damit verbunden sein muss. Wir sprechen ja oft das Wort „Haltung“ als etwas Notwendiges aus, aber wissen wir eigentlich voneinander, was wir damit meinen? Aber ich mag auch nicht verhehlen, dass „wohlwollend“ (als Zwang) oder geschützt (anstatt geschlossen) für mich Euphemismen sind und bleiben.
Im Anschluss an den „wohlwollenden Zwang“ erhielten wir per Video- Einspielung unter dem eigentlichen Titel „Grenzen der Freiheit“
Nachhilfe in den Möglichkeiten, die eine stationäre Therapie Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder anderen Diagnosen bieten kann. Das Ausloten möglicher Grenzen habe ich dabei aber vermisst.
Und dann zum Thema Forensik: „Wachsende Forensik – Der Preis für die Freiheit?“ Ute Franz führte uns die Situation innerhalb forensischer Einrichtungen mit den Möglichkeiten vor Augen, die dort gebraucht und genutzt werden, um psychisch Kranken, die nach aufwendigem Verfahren dort lange, u.U. auch zu lange bleiben müssen, wieder die Teilhabe am Leben außerhalb von Mauern zu ermöglichen. Ich habe vor allem den Appell aufgenommen, dass wir darauf achten und darauf hinwirken sollten, dass der Versorgungsauftrag der Psychiatrie auch den Auftrag umschließt, schwierige und kritische Situationen im Sinne der Verantwortlichkeit und Gegenseitigkeit zu lösen, bevor es zu einer „verschärften“ Unterbringung kommt. Und wie stehen wir dazu? Haben wir dazu eine Meinung oder sind wir zum Teil zu weit von dieser Wirklichkeit entfernt?
Dann gab es schon wieder die Brötchen, die Verführerischen, bevor im Plenum- statt wie vorher geplant, nur im Workshop am Nachmittag- der Film „Ich werde nicht schweigen“ von Esther Gronenbaum gezeigt wurde. Ich habe den Film zum zweiten Mal gesehen, war wieder aufgewühlt und habe nacherlebt, was es bedeuten kann, sich alleingelassen und entrechtet zu erleben, in einer Zeit, in der das Menschliche buchstäblich zu Grabe getragen wurde. Was mir auch geblieben ist, dass wir uns nun 80 Jahre nach dunkler Zeit dem damaligen Geschehen in dieser Form stellen können und uns auch fragen dürfen, was damals den Menschen im Namen der gängigen Wissenschaft angetan wurde. Wird uns auch zu gegebener Zeit ein Spiegel vorgehalten werden zur Frage: „Was habt Ihr denn damals gemacht? Habt Ihr gar nicht bemerkt, was Euer Handeln für Folgen hatte? Gestehen wir uns ruhig ein, dass auch wir blinde Flecken haben und nicht „glauben“ wollen/ möchten, dass auch die Wissenschaft unserer Zeit zu Irrtümern verleiten kann.
Nun aber erst mal verdauen, Pause machen, bevor wir uns zu den Workshops trafen, die vielfältige Themen aufgreifen konnten, irgendwie jeweils zentriert um das Spannungsfeld von Grenzen, Freiheiten und Zwängen. Ich setzte mich in den Workshop, der sich mit den Grenzen der Freiheit in der Psychotherapie beschäftigen wollte. Mich bewegte dabei die Frage, was meine inneren Grenzen betraf, wie ich meine Möglichkeiten zur Nutzung von Möglichkeiten (Freiheiten) erweitern kann, was es ist, was mich sowohl dabei unterstützt, als auch bei der Frage, wie es geht, eben auch Begrenzungen in mir selbst besser akzeptieren zu können.
Das Gespräch begann dann aber an einer ganz anderen Stelle, nämlich der äußeren Begrenzungen im sozialen und rechtlichen Raum. So habe ich erfahren dass in Polen Psychotherapeuten, wenn in den Gesprächen ein sexueller Missbrauch im Raume steht, dies der Aufsichtbehörde gemeldet werden muß. Da gab es natürlich aus verschiedensten Perspektiven viel auszutauschen, um auf ein besseres gemeinsames Verständnis hin zu arbeiten- als Boden für einen mehr persönlichen Austausch, aber ach! … die Zeit... Geblieben ist mir, dass es sich nicht von selbst ergibt, sich über die eigenen inneren Grenzen auszutauschen, und dass im Umgang mit äußeren Begrenzungen die uns eigene Haltung, die hinter dem Tun steht, von so immenser Bedeutung ist. Warum sprechen wir bloß nicht öfter gerade darüber?
Und dann ist mir aufgefallen, dass wir kein Plenum angeschlossen haben um kurze Berichte aus den Workshops auszutauschen und uns gegenseitig über das Erlebte zu informieren. Das sollten wir wieder einführen, da es helfen kann, den Zusammenhalt zu stärken.
Nun war der Zeitdruck gewachsen, und die Mitgliederversammlung musste stattfinden, um nötigen Informationen Raum zu geben. In Anbetracht der Abendveranstaltung und dem allgemeinen Wunsch nach etwas Zwischenraum ging es dort straff und schnörkellos zu Werk. Erst berichtete unser Vorstand, und dann erhielt die ukrainische Gruppe die Möglichkeit, über die bislang gemachten Erfahrungen mit der Unterstützung aus verschiedenen Bereichen der DPGSG zu sprechen. Die Gruppe sparte nicht mit Lob über das bisher Geleistete. Daran schlossen sich Berichte aus Sicht der einzelnen Unterstützungsprojekte an. Schließlich mussten wir uns unter dem Tagesordnungspunkt „Polnisch- Deutsche Austauschprojekte“ vor Augen führen, dass es nur noch vereinzelten Austausch gibt! Die Lebendigkeit der Gründerjahre mit den vielfältigen Begegnungsmöglichkeiten hat sich dahingehend verändert, dass man sich zwar gerne erinnert, aber die Lebendigkeit der Gesellschaft aus anderen Quellen gespeist werden muss. Zwei gute Botschaften: im Moment gibt es Geld in der Kasse, mit dem entsprechende Aktivitäten gefördert werden können. Und es gibt 12 neue Mitglieder !! Das gleicht zwar den Schwund der Mitglieder durch Austritt nicht aus, ist aber ein erfreulicher Schritt, der auch wieder Mut macht!
Immer wieder klagen wir zu Recht darüber, dass uns der „Nachwuchs“ oder „Zuwachs“ von jüngeren psychiatrisch Tätigen Menschen in beiden Ländern fehle und appellieren im Allgemeinen oder an uns selbst, doch neue Mitglieder- jeder 12? -zu akquirieren. Doch was glauben wir, hätten wir den Jüngeren zu bieten? Ein lebendiges Tagungsklima, interessante Anmerkungen zu brennenden Themen des Faches, Erfahrungen, die wir Alten vermitteln könnten? Das man bei uns singt und lacht? Stimmt ja alles, aber reicht das den heute sich engagieren wollenden jüngeren Kolleginnen und Kollegen? Was sind denn deren Themen in diesen Zeiten? Klimaentwicklung? Work- Life Balance? Familienfreundliche Arbeitsplatzgestaltung? Ökologie? Grenzen von Wachstum? Und wie greifen wir das auf? Müssten wir uns umstellen und öffnen, um diesen Entwicklungen einen ihnen zustehenden Raum zu geben? Lasst uns drüber sprechen.
Und nun zum Festabend: Was für ein Erfolg. Eine Busfahrt nach Bad Zwischenahn ans „Meer“, ein kleiner Gang noch unter dem Regen hindurch in die festliche Halle des alten Kursaales. Die Band, war noch am Aufbauen, die fürsorglichen Mitarbeiter*innen ließen uns nicht lange auf dem Trockenen sitzen. Ich will nicht von einem feucht- fröhlichen Abend sprechen.. aber es war genug für Alle da. Nach dem großartigen Essen fingen die ersten vorsichtig an, das Tanzbein zu schwingen und ein harter Kern (wie immer) hielt durch bis Mitternacht!
Am nächsten Morgen schonten wir uns nicht und entgegen der sonst üblichen Tradition, etwas später anzufangen, fanden wir uns programmgemäß ein zu einem weiteren schweren Thema, nämlich dem Wunsch nach einer assistierten Sterbebegleitung oder dem assistierten Suizid.
Ulrich Lilie von deutscher Seite und Wojciech Kosmowski aus Bydgoszcz führten aus ihrer Sicht in die Thematik ein. Während ein assistierter Suizid in Polen verboten ist, hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Land die Möglichkeit offengelassen, die nun einer rechtlichen Ausgestaltung bedarf. Die Art und Weise, wie mir Herr Lilie die Möglichkeiten und Fallstricke in dem Feld nahebrachte, hat mir imponiert und insbesondere eine abschließende Bemerkung, mit der er den von M. Bormuth vorgetragenen Jasper‘schen Gedanken des Nichtwissen-Könnens, wenn es um das Wohl anderer Menschen ginge, wieder ins Gespräch brachte - mit der Anmerkung, dass aber über die Dinge zusammen gesprochen werden muss.
Das löste bei mir wiederum die Überlegung aus, ob nicht gerade dieses der (uralte) menschliche Weg aus Dilemmata und Krisen ist. Keiner kann genau wissen, was richtig ist, aber zusammen können wir die beste passende Lösung im Miteinander finden. Das hat mich an eine Reihe von Situationen denken lassen, in denen von allen Beteiligten ein gemeinsamer Entschluss gefasst wurde, ein letztes Leiden unterstützend zu erleichtern.
Das ist für mich etwas, was diese Tagung ausgezeichnet hat. Wir haben es geschafft uns zuzuhören, Unterschiede zuzulassen, ohne in Diskussionen über richtig oder falsch zu verfallen, selbst wenn wir nach wie vor bei soviel Individualisten immer noch sehr unterschiedlich sind und bleiben. Das macht mir Mut.