Thomas Feld - Deutsch - Polnische Gesellschaft für Seelische Gesundheit

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REFLEXIONEN NACH DER KONFERENZ
XXXII. Deutsch - Polnischen Symposium
Unsichere Zeiten – Vom Trauma zur Genesung
Bydgoszcz, 28 - 30 September 2023
Thomas Feld
Notizen zu Bydgoszcz

Nun sind wir am Ende unserer Tagung angekommen. Drei Tage, ein Zeitraum, der mir sehr viel länger vorkommt. Wieder einmal weiß ich nicht, wie sich die vielen Eindrücke, Begegnungen und Gespräche in 3 × 24 Stunden unterbringen ließen.

Für mich begann die Tagung am Donnerstag morgen. Wir trafen uns in der Hotellobby und machten uns auf den Weg, die Innenstadt von Bydgoszcz zu erkunden. Mit Bernd, Daniela und Nils ging ich am Ufer der Brda entlang in gemächlichem Tempo, bei schönstem Sonnenschein, von der Sonne des Spätsommers verwöhnt. Sehr bald waren wir gefangen genommen von der schönen von Fluss, Kanälen und Wasserläufen durchzogenen Stadt. Wir fanden uns schnell in intensive Gespräche vertieft, immer wieder unterbrochen durch den Ausblick auf historische Gebäude, weitläufige Plätze, das Überqueren verschiedener Brücken und Stege. Weit entfernt schien uns das Thema unserer Tagung: „Unsichere Zeiten – vom Trauma zur Genesung“.

Erinnert wurden wir allerdings an den Grund unseres Zusammenseins durch das Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des deutschen Überfalls auf Polen von 1939-1945 auf dem Stary Rynek. Eine Geschichte, die uns schmerzt und uns zugleich verbindet.

Offiziell eröffnet, wurde unsere Tagung dann in dem modern und mutig restaurierten Gebäude der Młyny Rothera, der Rother Mühle - ein Haus mit tief reichenden historischen Wurzeln, die unter anderem auch nach Preußen führen. Lukasz und Ralf begrüßten uns in Bydgoszcz, an einem Ort, so Łukasz, an dem Leute leben, „die Lust darauf haben, etwas zu wollen“. Als Beispiel für diese Art von Menschen stellte er uns Ella vor Augen, der wir die Einladung und Organisation der Tagung verdanken. An dieser Stelle schon einmal, liebe Ella, ganz herzlichen Dank für deine Lust, uns bei dir zu Gast haben zu wollen. Vielen Dank für all deine Mühen und die Deines Teams, uns den Aufenthalt in Bydgoszcz so angenehm wie möglich zu machen. Das ist Dir ganz wunderbar gelungen - mit fürstlicher Bewirtung in einem königlichen Palast.

Łukasz erinnerte in seinem Grußwort daran, dass die Stadt Bydgoszcz, die sich uns von ihrer gastfreundlichen Seite gezeigt hat, auch ein Ort deutscher Verbrechen gewesen ist. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Tal des Todes. Es ist das Tal, in dem während der Zeit der Nazi Herrschaft 10.000 Lehrer, Beamte und andere Intellektuelle ermordet worden sind. Das ist eine Wunde die schmerzt. Es ist ein Trauma, das uns alle in unterschiedlicher Weise betrifft. Wir hoffen aber davon genesen zu können, wenn wir einander begegnen und uns zusammen auf den Weg der Genesung machen.

Bydgoszcz - übersetzt heißt das: „ein Ort, der Gastfreundschaft weckt“. Daran erinnerte uns Prof. Wiktor Drozdz, der uns von Seiten der Universitätsklinik willkommen hieß. Und auch wurden wir daran erinnert, dass diese Gastfreundschaft auch für unsere Gesellschaft auf eine lange Geschichte zurückblicken kann: Professor Araszkiewicz erinnerte daran, dass schon im Jahr 2000 die Beitrittserklärung zu unserer Gesellschaft von der Klinik in Bydgoszcz unterzeichnet wurde.

Auch wenn ein späterer Referent - der Schriftsteller Michal Pietniewicz - darauf hinwies, dass normalerweise erst das Leben kommt und dann die Philosophie, ein Verhältnis, das sich in der Psychose umkehrt, begannen wir unsere Tagung mit der Philosophie. Unter dem Titel „neue Zeiten - unsichere Zeiten“ entführte uns Professor Marek Cichocki auf das Hochplateau seiner politischen Philosophie.

Unsichere Zeiten - das schien ihm viel zu milde formuliert. In den gegenwärtigen Verunsicherungen - als Beispiele nannte er das Attentat auf das World Trade Center am 11.9.2001, die Finanzkrise von 2009, die Corona Pandemie, den Klimawandel und den Krieg in der Ukraine - in diesen Störungen unserer gesellschaftlichen Ordnung meldet sich vielmehr das Chaos. „Chaos und Unordnung klopfen immer lauter an unsere Tür“ - so der Referent. Und wir tun gut daran, uns neu mit dem Ineinander von Chaos und Ordnung, mit dem sich alle mythologischen Traditionen auseinandergesetzt haben, zu beschäftigen.

Dass das Chaos an unsere Tür klopft, stellt unsere moderne Art unsere Welt und unsere Geschichte zu konstruieren tiefgreifend in Frage. In unserer Konstruktion der Geschichte als Fortschritt, die die Geschichte als einen auf ein positiv fixiertes Ziel zulaufenden Prozess beschreibt, finden wesentliche Begriffe, die zu einem vollständigen Verständnis menschlichen Handelns notwendig sind, keinen Platz mehr. Das Fehlen von Begriffen wie Wunder, Zufall, Fehler, Geheimnis bei unserem Begreifen geschichtlicher Ereignisse, stellt die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen von Geschichte vollständig in die menschliche Verfügbarkeit. Und trotz aller Katastrophen des 19. Und 20. Jahrhunderts scheint unser Glaube an einen positiven Verlauf des geschichtlichen Prozesses kaum erschüttert.

Was aber folgt daraus? Der Glaube an die unendliche Verbesserungsfähigkeit der Welt hat als seine Kehrseite einen Individualismus, der sich zuweilen in einen ausgeprägten Narzismus steigert. Hier wäre anzusetzen. Die narzistische Verkennung der Wirklichkeit, die sich in einem Satz ausdrückt wie: „nichts außer mir ist größer als ich“ - ist zu ersetzen durch Sätze wie: „Die Welt ist immer größer als wir es sind.“ „Die Welt hat ihre eigene Weisheit.“ „Es gibt etwas, das größer ist als wir.“ Und auch: „Mein eigenes individuelles Leben ist größer als ich selbst.“ Das heißt: in unsicheren Zeiten ist zuerst anzuerkennen, dass diese Unsicherheit immer zum menschlichen Leben gehört - eine Erkenntnis, die uns eine Haltung der Demut nahelegt.

Zum Glück wurden wir nach diesen philosophischen Höhenflügen, die uns bis in unsere abendlichen Gespräche hinein zu intensiven Diskussionen angeregt haben, durch erdigen Jazz und handfesten Imbiss wieder einigermassen geerdet.

Denn auf die Philosophie sollte am Freitag das Leben folgen. Der Freitag gehörte Vorträgen und Workshops in denen wir uns der Frage gestellt haben, wie es uns direkt vor unseren Augen und Füßen gelingen kann, den unsicheren Zeiten zu begegnen. Wie können wir angemessen und fachlich kompetent mit dem Chaos umgehen, das uns in unseren Kliniken, unseren Ländern, Städten und Dörfern, in den Seelen unserer Patienten und in unseren eigenen Köpfen immer wieder begegnet.

Nach einem Film, der vor 20 Jahren gedreht, das Deutsch-Polnische Symposium in der Weißen Synagoge in Sejny dokumentiert,  machte Ralf Asfalg den Anfang zum Thema Gewaltprävention.

In der Psychiatrie begegnet uns Gewalt. Eine Gewalt, die durch die Gesellschaft an die psychiatrisch Tätigen delegiert wird und eine Gewalt, die immer wieder auch von Patient*innen ausgeht. Diese Gewalt durchbricht unsere geordneten psychiatrischen Handlungsmuster in chaotischer Weise. Ralf informierte uns über gesetzliche Rahmenbedingungen, institutionelle Vorkehrungen, persönliche Qualifikationen, die geeignet sind, Gewalt zu reduzieren - zum Wohle der Patientinnen und Patienten und der Mitarbeitenden. Denn ein Trend lässt sich in allen gesetzlichen Entwicklungen entdecken: die Stärkung der Patienten- und Autonomierechte.
Der zweite Vortrag von Valeriia Pryhozhyna informierte uns über die Therapie von Kriegstraumata durch den hauptsächlich von Freiwilligen getragenen psychiatrischen Krisendienst in der von Russland überfallenen Ukraine. Mit insgesamt 150 Freiwilligen wendet sich dieser Krisendienst  landesinternen Flüchtlingen, Verletzten, Soldaten und deren Angehörigen, Familien Verstorbener, Kindern und der Schulung von Volontären zu. Ich bin sicher, ich gebe hier die Überzeugung aller wieder, dass wir in Ihrer Arbeit, liebe Frau Pryhozhyna, ein unglaubliches und überzeugendes Engagement finden, das uns für Sie und Ihre Freiwilligen die größte Achtung und Bewunderung empfinden läßt. Ein wirksames Zeichen gelebter Humanität, an Orten an denen die Menschlichkeit in ignoranter Weise mit Füßen getreten wird.

„Die Menschen, das sind ihre Geschichten!“ - so der Philosoph Odo Marquardt[1]und: Menschen laufen Gefahr, sich selbst zu verlieren, wenn sie ihre Geschichten verlieren. Das aber scheint zu geschehen, wenn bei einer PTBS immer wieder das erlittene Leid in die Gegenwart einbricht und den Lauf und die Erzählung der eigenen Geschichte unmöglich macht. Eva Barnewitz informierte uns in ihrem Vortrag über die psychischen und körperlichen Mechanismen, von denen das Leben von Menschen mit PTBS gestört und belastet wird. Die narrative Expositionstherapie ist in diesem Kontext ein in vielen Fällen wirksames Mittel, das posttraumatische Chaos von Übererregtheit, Flash Backs, Intrusionen und dissoziativen  Störungen in die geordnete Form einer Geschichte, die ihren Platz in der Lebensgeschichte findet, zu überführen.

Der vierte Vortrag wurde von dem Schriftsteller Micha Pietniewicz gehalten. Er berichtete von den beiden Psychosen, die sein Leben schon mit zwanzig Jahren ziemlich durcheinander gebracht haben. Was mich bei Ihrem Vortrag, lieber Herr Pietniewicz zutiefst beeindruckt hat, war ihre nicht nachlassende Anstrengung diese Psychosen positiv zu sehen und dem, was sie da erlebt haben, Einsichten abzugewinnen, die nicht allein Ihr Leben vor dem Chaos bewahren. Lassen sie mich bitte einige besonders schöne Formulierungen zitieren:
„Heilung heißt: in der ausgetrockneten Landschaft meines Seelenlebens blühende Inseln zu entdecken, die sich zu einem Garten verbinden.“
Zuhören ist heilsam: „Dass der Schmerz eines anderen so weh tut, wie ein eigener Schmerz - das könnte auch eine Metapher für Liebe sein.“
“Ich muss nicht der Retter der Welt sein, um einen Kaffee mit Genuss in meinem Lieblingskaffee zu trinken.“
„Erst leben, dann philosophieren! - diese Gewichtung stellt die Psychose häufig auf den Kopf.

Sie merken, ich bin beeindruckt von Ihrer Fähigkeit, Ihr Erleben in treffende Bilder und Metaphern zu kleiden. ein wirksames Mittel nicht nur gegen begriffliches Chaos. Vielen Dank, dass Sie uns an Ihrem Erleben haben teilnehmen lassen.

Der heutige Vormittag hat uns noch einmal auf zwei sehr unterschiedlichen Wegen deutlich gemacht, wie wichtig es ist, das persönliche Erleben, die Hoffnungen und Sinnentwürfen unserer Patienten in unser psychiatrisches Handeln einzubeziehen. Sei es in dem pflegewissenschaftliche begründeten Recovery Ansatz oder der Erkenntnis, dass bei aller fachlich fundierten psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Behandlung, es letztlich darauf ankommt, wie Menschen in den größeren Kontexten ihrer Lebenswelt beheimatet sind.

Mein Beitrag ist angekündigt als Fazit und Perspektive. Bislang haben sie einen bunten Strauß von Eindrücken und Erinnerungen an die zurückliegenden beiden Tage erhalten. Dieser Strauß bildet nun die Grundlage für mein Fazit und meine Perspektive.

Zunächst mein Fazit: ja, das Chaos klopft an unsere Tür, das aber nicht erst seit heute. Es hat in der Vergangenheit schon deutlich stärker an unsere Tür geklopft. Gleichwohl müssen wir uns gegenseitig bestärken, dem Chaos zu begegnen. Wir haben dazu ermutigende Beispiele gefunden und von mutigen Taten gehört dafür allen Vortragenden und allen Teilnehmenden, ganz herzlichen Dank.

Für meine Perspektive folge ich Begriffen, die mir in den vergangenen Tagen in Vorträgen und Workshops in Gesprächen und Begegnungen aufgefallen sind.

Da steht ganz vorne der Begriff des Mutes. Ja, wir brauchen Mut, um zuversichtlich in die Zukunft zu gehen. Wir brauchen dazu einen aufgeklärten, klugen, nachdenklichen Mut, einen Mut, der die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse genauestens analysiert und um Chancen und Risiken, weiß. Diesen Mut brauchen wir auch, wenn wir mit Patienten und Patientinnen umgehen wollen, deren seelische Gesundheit von Chaos bedroht ist. Und hier korrespondiert Mut aufs engste mit dem, was wir mit Begriffen wie Autonomie und Selbständigkeit beschreiben.

Damit ein solcher Mut aber nicht zu Mutwillen wird, brauchen wir Visionen, wir brauchen Ideen, Träume und den Mut, gemachte Erfahrungen wahrzunehmen und für unser Handeln nutzbar zu machen. Ich glaube, dass ein solcher von Ideen, Träumen und Erfahrungen geleiteter Mut den Krisendienst in der Ukraine möglich gemacht hat und auch Leitstern ist für eine Therapie, die den unterschiedlichsten Traumata wirkungsvoll begegnen will. Eva Barnewit sprach von Mut, Heiterkeit und Klarheit - eine Trias, die die von mir gemeinte Haltung wunderbar kennzeichnet.

Immer wieder war in unseren Vorträgen und Workshops davon die Rede, dass wir auf Freundschaft, Gemeinschaft, Begegnung, den offenen Dialog angewiesen sind. Für mich klingt hierin eine Perspektive an, die ich als transzendente Verankerung des Mutes beschreiben möchte. Mutig können wir nur sein, wenn wir mit unseren mutigen Taten auf Resonanz hoffen dürfen. Mutig können wir nur sein, wenn wir darauf hoffen dürfen, dass unser Mut in eine Wirklichkeit eingebettet ist, die unseren Mut letztlich bestätigt, stützt und gut heißt. Gläubige Menschen mögen hier an eine Wirklichkeit denken, die wir mit dem Wort Gott anrufen. Aber für die, die damit nicht soviel anzufangen wissen, geht es auch eine Spur profaner: auch Freundschaft, auch Gemeinschaft, auch offener Dialog zielt auf eine solche transzendente Verbundenheit ab. Und vielleicht können wir uns alle in den Worten aus dem ersten Johannesbrief wiederfinden: Furcht ist nicht in der Liebe, denn die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.

Ein letzter Gedanke: in einem ihrer ersten Joachim Vernau Krimis, der seine Schauplätze in Deutschland und Polen hat, erinnert Elisabeth Herrmann an Papiertüten, die in den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland im Umlauf waren. Sie hatten den Aufdruck: „Esst mehr Obst“. Elisabeth Herrmann wünschte stattdessen Tüten, auf denen gedruckt stehen sollte: „Reist nach Polen“. So unbekannt und gleichzeitig so interessant schien ihr Polen aus deutscher Perspektive. Für mich hat es tatsächlich bis 2015 gedauert, bis ich dieser Aufforderung gefolgt bin und jedes Mal, wenn ich seither nach Polen gekommen bin habe ich neue und phaszinierende Seiten Ihres schönen Landes entdeckt. Sodass ich für alle bisherigen Einladungen sehr, sehr dankbar bin und mich heute schon auf unsere übernächste Tagung freue - dass ich dann wieder nach Polen reisen darf.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit


[1] Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 105.
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